KURZGESCHICHTEN
Baggersee
Ich blicke aus meinem Fenster vom ersten Stock auf die Kreuzung vor meinem Haus. Ich habe eben aus den Nachrichten erfahren, dass dort – genau vor meinem Fenster und genau jetzt – eine Straßenschlacht stattfindet. Die Autonomen gegen die Bullen. Ich sehe da aber nichts. Nur Schnee und eine Frau an der Telefonzelle, die ihre Umkleidekabine noch an hat – eine von diesen Dingern aus Stoff, mit großen Blumenmustern in Braun oder Kotzgrün. So ein Stoffsack eben, der oben zu gebunden wird, und durch den man sich am Baggersee vor fremden Blicken schützt. Ich frage mich, wer eigentlich vor was geschützt werden muss. Auf jeden Fall hat diese Frau ihre Kabine noch an und hämmert jetzt mit zusammengeballter Hand auf das Telefon ein. Diese Art von Frauen tragen auch Duschhauben in rosarot. Nicht nur zum Duschen. Auch beim Kochen, Putzen und Zeitungslesen. Vor welchen Blicken will sich die Frau verbergen? Sie kommt bestimmt nicht von irgendeinem See. Wir haben November, es liegt Schnee und noch dazu ist es mitten in der Nacht. Ich muss unweigerlich an die Mutter meines Schulfreundes Mike denken. Die hatte auch immer so ein Ding mit. Sie hat jedes Mal darauf bestanden, dass wir uns darunter umziehen. Und auch sonst hatte sie einen Hang zu den bieder-bürgerlichen Großmustern der Siebziger. Komischerweise rieche ich jetzt fettige Pommes mit Majo und höre träge Fliegen summen. Und ich sehe Maria in ihrem roten Badeanzug, ihren bleichen Körper, der von den Wellen rhythmisch an das Schilf bewachsene Ufer geschlagen wird.Draußen hämmert die Alte immer stärker auf das Telefon ein. Mittlerweile mit beiden Händen. Gleich fängt sie an zu schreien, da bin ich mir sicher. Die Griechin von gegenüber weiß das auch. Sie hat ihr Fenster bereits geschlossen und guckt unter schweren Liedern auf die Straße hinab. Gestern habe ich sie dabei beobachtet, wie sie sich oben-ohne einen Kaffee gekocht hat. Danach stand sie noch eine Weile da, hat ihre Hände an der dampfenden Tasse gewärmt und einen Moment auf die Straße geguckt – genauso wie jetzt gerade. Sie braucht keine Umkleidekabine, sie hat nichts zu verbergen. Im Augenblick trägt sie einen dicken Rollkragenpulli und sieht sehr kuschelig aus. Ich starre die Griechin an und hoffe, dass sie für einen kurzen Augenblick die Augen von der Frau in der Telefonzelle abwendet, um zu mir herüberzublicken. Das tut sie allerdings nie. Die Alte unten hat aufgehört das Telefon zu schlagen. Bislang hat sie noch nicht angefangen zu schreien, aber das kann ja noch kommen. Vorne an der Ecke beim Kiosk biegt der Opa von unten in die Straße ein. Sein Köter zerrt ihn hinter sich her. Der Mann stolpert auf die Frau in der Umkleidekabine zu. Er spricht zu ihr. Sie blickt nur einen Moment auf und jetzt beginnt sie mit dem Schreien. Der Köter zieht seine Lefzen hoch und bellt die Frau an. Hinter mir höre ich einen Marienkäfer, der immer wieder gegen die Lampe fliegt, einer von denen, die nicht sterben wollen. Sein Summen und das leise Knacken der Flügel erinnern mich wieder an den Sommer. Ich bin zum Schwimmen lieber an den Baggersee gefahren. Ich war einmal in einem Freibad, aber da habe ich beobachtet, wie zwei alte Frauen sich gegenseitig ihre Ärsche eingecremt haben. Danach wollte ich dort nicht mehr hin. Am Baggersee waren nur wir Kinder. Manchmal kamen die Mütter mit, um auf uns aufzupassen. Aber die meiste Zeit waren wir frei. Ich konnte stundenlang auf dem Bauch im Gras liegen, die Augen ganz dicht an den Halmen, so dass sie aussahen, wie ein undurchdringlicher Urwald. Mit Mike habe ich Wolkenraten gespielt und die warmen Strahlen der Sonne auf dem Bauch gespürt. Wir haben uns vorgestellt, dass es geheime Laserstrahlen sind und wir durch Aliens mit Superkräften aufgeladen werden. Mit den anderen Kindern haben wir Staudämme, Gräben und Burgen gebaut. Und auf dem Grund des Sees wohnte ein Ungeheuer mit hundert Armen und neun Augen. Es war ein unglaublicher Nervenkitzel, im trüben See zu schwimmen. Ich kann mich noch an unsere Wettkämpfe erinnern – Jungs gegen Mädchen. Und ich weiß noch genau, wie ich Maria in ihrem roten Badeanzug das Tauchen beigebracht habe. Zuerst mochte sie nicht, aber dann ist sie länger unter Wasser geblieben als alle anderen. Sie wollte das Monster sehen und ich habe ihr dabei geholfen.
Unten auf der Straße ist es mit einem Mal ruhig. Es hat wieder angefangen zu schneien. Die Frau in der Umkleidekabine hat sich auf dem Boden in der Telefonzelle zusammen gekauert, den Kopf auf den Knien, die Griechin steht nicht mehr an ihrem Fenster und die Straßenschlacht hat noch nicht begonnen.
Alles nach Plan
Unwirsch dreht sich Yvonne zur Wand, die Decke über beiden Ohren. Der Wecker ist unerbittlich, wie jeden Morgen. Gleich steht sie auf, schiebt den linken Fuß als ersten in die rosa Pantoffeln, dann den rechten. Schlaftrunken greift sie nach ihrem Bademantel und geht ins Bad. In der Küche wartet bereits der gedeckte Tisch auf sie. Die Mutter steht jeden Morgen um fünf Uhr auf und bereitet das Frühstück vor. Seit über fünfzig Jahren tut sie das, sie ist schon lange in Rente.Yvonne isst schnell ein Marmeladebrötchen und trinkt eine Tasse Kaffee. Zum Abschied küsst sie die Mutter flüchtig auf die Wange und verlässt das Haus.
Am Kiosk neben der Bushaltestelle kauft sie sich eine Tageszeitung, die sie im Bus überfliegt. Besonders interessieren Yvonne die Reisereportagen. Das Meer, die farbenfroh gekleideten Menschen, der weiße Strand lassen sie noch einen Moment lang weiterträumen. Einfach mal raus hier, alles hinter sich lassen. Sie denkt an den pinkfarbenen Bikini, den sie noch nie getragen hat und an die dazu passende Strandtasche, an Obstplatten und Cocktails in Kokosnüssen, an Musik, Lachen und Sex.
Im Büro erwartet sie die Grünlilie, mit der sie jeden Morgen spricht. Sie hat Mitleid mit der Pflanze, die die ganze Nacht alleine ist. Vor drei Jahren hat sie das halb vertrocknete Gewächs aus dem Büro eines Kollegen gerettet und mit viel Geduld wieder aufgepäppelt. Jetzt steht sie – prächtig gewachsen – auf dem Aktenschrank ihres Büros. An der Wand dahinter hängt ein Poster, auf dem eine karibische Strandlandschaft zu sehen ist. Yvonne setzt sich an ihren Schreibtisch, packt die mitgebrachte Thermoskanne mit Kaffee aus und schaltet den Computer ein. Ihr Blick fällt auf das Foto auf ihrem Schreibtisch, das sie mit George Clooney zeigt. Sie hat ihn letztes Jahr in Berlin getroffen. Er war zu einer Filmpremiere in der Stadt. Abends als sie sich am Savignyplatz einen Cocktail gönnte, stand er plötzlich neben ihr an der Bar. Sie hatte ihn angelächelt und nach einem Autogramm gefragt. George war sehr freundlich und kritzelte auf eine Serviette: „From George with Love“. Manchmal träumt sie von einer gemeinsamen Reise mit ihm.
Die Arbeit macht ihr Spaß. Den größten Teil des Tages verbringt sie zusammen mit ihrer Kollegin im Büro. Die Kollegin kann Yvonnes Urlaubsphantasien nachfühlen. Am liebsten würde sie selbst mitkommen, sagt sie, aber ihr Gehalt reiche dafür nicht aus. Yvonne legt, seit sie vor einiger Zeit einen Bericht über die Fidschi-Inseln gesehen hat, monatlich etwas Geld beiseite. Regelmäßig holt sie sich einen Kontoauszug und betrachtet ihn bei einem Glas Rotwein. Für acht Wochen Urlaub auf den Fidschis oder auf Samoa wird sie nicht mehr lange sparen müssen. Der Chef hat ihr für diese Zeit unbezahlten Urlaub zugesagt. In Gedanken ist sie wieder bei dem pinkfarbnen Bikini. Das Telefon klingelt und reißt Yvonne aus ihren Tagträumen. Eine gefasste Stimme teilt ihr mit, dass die Mutter einen Schlaganfall erlitten habe. Wie versteinert lauscht Yvonne dem Arzt am anderen Ende der Leitung, unfähig etwas zu antworten.
Yvonne guckt auf Schläuche und piepsende Monitore. Der Stationsarzt sagt, dass die Mutter nicht mehr der Mensch sein werde, der sie war. Sie werde nicht mehr sprechen, sich nicht waschen, anziehen und alleine essen können.
In Yvonnes Gedanken mischt sich ein Rauschen. Sie hört die Wellen am Strand auflaufen, das Knirschen des Sandes unter ihren Füßen und fernen Gesang. Die Grünlilie lässt ihre Blätter hängen. Einige sind abgefallen. Geistig abwesend trinkt Yvonne ihren Kaffee und bemerkt die welken Blätter nicht. Sie denkt an die Mutter, die sie in einem Pflegeheim untergebracht hat. Yvonne besucht sie dort täglich, auch wenn sie nicht weiß, ob die Mutter sie noch erkennt. Angeschlossen an Schläuche starrt die alte Frau mit leeren Augen an die Decke. Von ihrem Einzelzimmer blickt man auf die Alster und bei schönem Wetter kann man die weißen Segelboote auf den Wellen tanzen sehen.
Yvonne schaut auf den blau leuchtenden Bildschirm vor ihr. Sie schrickt auf, als ihr Chef im Büro nebenan laut telefoniert. Ihre Kollegin hat Urlaub und ist mit ihrer Familie an die Ostsee gefahren. Erst in einer Woche wird sie zurück sein. Yvonne hat noch vierzehn Urlaubstage, die sie im Sommer nehmen möchte. Dann wird sie ein großes Badetuch und eine Tube Sonnecreme in ihre Strandtasche packen und in den Stadtpark gehen. Dort wird sie sich in die Sonne legen und an die glücklich aussehenden Menschen aus den Reisemagazinen denken, den heißen Sand unter ihren Füßen spüren und das Aroma von süßen Früchten schmecken. Alleine unter Palmen. George ist nicht bei ihr.